In den 1920er Jahren konstruiert Dr. Emanuel Goldberg den Kinamo und nimmt damit heutzutage selbstverständliche Möglichkeiten des Smartphones, wie mobile Film- oder Selfieaufnahmen, vorweg – dies aber im vollen 35mm Cinefilmformat. Goldberg ist nach seiner wissenschaftlichen Karriere in die freie Wirtschaft zur ICA gewechselt. Dort leitet er nicht die Abteilung der Photographie, sondern die der Kinematographie. Die Kinematographie beschäftigt sich mit der gesamten Technik von der Aufnahme bis zur Wiedergabe vom Bewegtbild. Bei der ICA entwirft, baut und testet er hierfür den Kin(e)amo, was aus dem griechischen „kine“ und den lateinischen „amo“ übersetzt so etwas wie „Ich liebe Filme“ bedeutet. Goldberg gehört auch zu den Gründern der Deutschen Kinotechnischen Gesellschaft und glaubt an eine Zukunft des Films im Amateurbereich. Um zu beweisen, dass auch der Amateur Filme frei aus der Hand drehen kann, wird der Wissenschaftler und Ingenieur selbst zum Regisseur, Kameramann und Schauspieler seiner eigenen Kurzfilme, die er teils mit seiner eigenen Familie und Freunden dreht.

Der handbetriebene Kinamo ist nicht die erste kleinere Kamera seiner Art. Goldberg, der stets nach der besseren technischen Lösung sucht, statt etwas selbst zu tun, erkennt die Problematik des Handbetriebs. Dieser fesselte den Kameramann buchstäblich ans Stativ. Goldberg entwirft daraufhin einen Federantrieb mit mechanischen Aufzug, welcher die Federspannung in eine möglichst gleichmäßige Bewegung umsetzt.

Der Kinamo war damit nicht mehr auf eine gleichmäßige Betätigung einer Kurbel und dem Rythmusgefühl des Kameramanns angewiesen, konnte aber auch weiterhin per Handkurbel betrieben werden. Der Kinamo ist eines der vielen technischen Meisterwerke von Goldberg, welches dieser intensiv testet und optimiert. So lässt er den Kinamo bei einem Aufenthalt in den Alpen draußen über Nacht liegen, um diesen dann am folgenden Morgen zu zerlegen. Mit dem Federwerk wird der Kinamo zur „Entfesselten Kamera“. Dieser ist nun nicht mehr vom Stativ auf vertikale und horizontale Schwenks beschränkt, sondern ist nun frei, also „entfesselt“, beweglich.

1921 kam die ICA Kinamo auf den Markt, welche dann ab 1923 mit Federmotor ausgestattet ist. Nach dem Zusammenschluss führender Kamerahersteller 1926 zur Zeiss Ikon AG muss die entsprechende Produktpalette der unterschiedlichen Firmen zu einer gemeinsamen Produktpalette verschlankt werden. Die ICA Kinamo ist von den Produktstreichungen nicht betroffen, sondern wird zur Zeiss Ikon Kinamo N25, dann ab 1927 zur Universalkinamo.

Da sich langsam der kleinere, billigere und nicht brennbare 16mm-Film im Amateurbereich durchsetzt, ist ab 1925 die kleinere ICA Kinamo 16 erhältlich, die ab 1926 als Zeiss Ikon Kinamo S10 vertrieben wird.

Der Kinamo hat neben dem Federmotor einige weitere überzeugende Ausstattungsmerkmale. Dazu gehört beispielsweise ein Durchsichtsucher, ein Vorlaufwerk und ein Objektivbajonett, dass damit auch die Verwendung unterschiedlicher Wechseloptiken ermöglicht. Da der Kinamo auch die Aufnahme von Einzelaufnahmen ermöglicht, handelte es sich eigentlich um ein Universalgerät für Film und Foto.

1926 können statt „nur“ 15 Meter bis zu 25 Meter Film geladen werden.

Im Gegensatz zu den großen Kameras erscheint die Filmmenge mit 15 Metern und 25 Metern erstmal gering. Dafür kann das Filmmagazin bei Tageslicht ausgetauscht werden. Durch Filmschnitt und Zusammenfügen mehrerer Szenen können damit durchaus längere Filmen produziert werden.

Der 35mm Film mit Perforation wird dabei über zwei Zahnrollen an den beiden Schuhen transportiert.

Das Federwerk ist mit einem Durchsichtsucher ausgestattet. Dieses Modell hier besitzt eine weitere Gravur für eine 135mm Optik.

Auf der Rückseite ist der Durchsichtsucher mit einem Metallschieber und Entfernungsskala zur Scharfeinstellung ausgestattet. Die eigentliche Fokussierung erfolgt weiterhin direkt am Objektiv.

Beim Filmen vom Stativ wird die Nutzung vom Iconometer-Sucher, bestehend aus einem klappbaren Rahmen mit versenkbaren Visier, empfohlen.

Dabei muss bei der Durchsicht das Loch vom Visier, mit der Mitte des Rahmens, in Deckung gebracht werden.

Der größte Vorteil war die neu gewonnene Mobilität, mit der man offen oder versteckt filmen und sich seinem Sujet entsprechend nähern kann. Der Kinamo ist mit den Maßen 15x12x12 cm zwar recht kompakt, wiegt aber doch überraschende 2,5 kg. Mobilität und Unauffälligkeit haben seinerzeit seine Vorteile. Mit dem Beginn von Filmkameras im öffentlichen Raum kommt es zu dem sogenannten „Gaffer-Prinzip“. Dieses macht es Filmemachern manchmal unmöglich, natürlich oder verdeckt zu drehen. Wie auch noch heute bei manchem Fernsehinterview oder Live-Übertragung versuchten Passanten mit unterschiedlichen und einfallsreichen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen. Der Kinamo wird damit zu einer guten Wahl für die unauffällige Berichterstattung und den Dokumentarfilm. Er erlaubt es beispielsweise Joris Ivens, Martin Rikli, Ella Bergmann-Michel, Jean Vigo, Wilfried Basse bis hin zu László Moholy-Nagy neue Möglichkeiten des Aufnahmestils auszuloten.

Auch Walter Frentz, erst Kajakpionier, Student und Filmemacher, dann Mitarbeiter von Leni Riefenstahl und „Kameramann des Führers“ nutzt den Kinamo. Dieser kommt bei seinen Kamerafahrten im Kajak zum Einsatz. 1932 dreht er mit dem Kinamo seinen ersten Kinofilm „Wildwasserfahrt durch die schwarzen Berge – Ein Kajaksportfilm“. Der Kinamo ist damit so etwas wie die „Action-Cam“ der 1930er. In einem Brief an die Zeiss Ikon AG lobt Frentz den Kinamo. Er wird von der Ufa angefordert, da die Handkamera neue Möglichkeiten der Kameraführung ermöglicht. Frentz wird damit zum Kameramann. Auch bei den Dreharbeiten des Filmes „Triumph des Willens“ und „Olympia“ ist er mit dem Kinamo zu sehen. Die Fotografien wurden mir freundlicherweise vom Sohn von Walter Frentz für diesen Artikel zur Verfügung gestellt. Sämtliche Aufnahmen unterliegen dem Copyright der „Walter-Frentz-Collection“ und sind nicht frei nutzbar.



Die Mobilität brachte Vorteile, die geringe Filmkapazität aber auch entsprechende Herausforderungen wie sich der Sohn von Walter Frentz erinnert:
Mein Vater betonte als Geschichte zu dieser Kamera immer, dass sie ein Federwerk hatte, das eine Drehzeit von einer Szene von nur maximal 15 Sekunden erlaubte. Man hätte sich deshalb immer vorab darüber klar sein müssen, dass ein Schwenk spätestens nach 15 Sekunden zu Ende sein müsse.
Hanns-Peter Frentz 29.8.23
Ella Bergmann-Michel oder die „Frau mit der Kinamo“ nutzt die kleine Kamera in den 30er Jahren um die Atmosphäre am Ende der Weimarer Republik und Krisenjahre einzufangen. In ihren Filmen lotet sie die Möglichkeiten der Bewegung aus, welche eben erst durch eine Kamera wie dem Kinamo möglich wurde. Die Mobilität der kleinen Kamera kam der dokumentarisch inszenierenden Arbeit von Bergmann-Michel dabei entsprechend entgegen.

Zu ihren Filmen mit der Kinamo gehören „Erwerbslose kochen für Erwerbslose“ oder auch „Wahlkampf 1932“, bei welchem sie kurz verhaftet wird. 1932 entsteht auch „Fliegende Händler“, in diesem verkaufen Erwerbslose ohne Genehmigung der Polizei ihre Waren in den Straßen von Frankfurt am Main. Die Händler kaufen auf dem Großmarkt Waren wie Obst und Gemüse, um dieses dann ständig auf der Flucht zu verkaufen. Mit dem unauffälligen Kinamo fängt Bergmann-Michel die Not der Menschen ihrer Zeit ein. Ella Bergmann-Michel ist eine avantgardistische Gesamtkünstlerin, welche die Medien Malerei, Fotografie und Film in Ihre Arbeit einfließen lässt und bereits vor Kurt Schwitters mit der Collage arbeitete. Sie studierte an der Großherzoglichen Sächsischen Hochschule für Bildende Künste, der Institution, welche sich gerade im Umbruch zum Bauhaus befand. Die Künstlerin wurde im Nationalsozialismus mit einem Berufsverbot belegt und stellte ihre Filme teils erst in London fertig. Ihre eigene fotografische und filmische Arbeit hat Bergmann-Michel im Gegensatz zu anderen Medien nicht fortgeführt, obwohl sie sich weiterhin mit dem Medium Film stark verbunden fühlte. Die filmischen Arbeit von Bergman-Michel können als avantgardistisch ästhetische Suche des jungen Medium Film und der Auseinandersetzung mit politisch und sozialen Spannungen ihrer Zeit gesehen werden.

Die Möglichkeit von Einzelaufnahmen erlaubte auch die Aufnahme von Zeitrafferaufnahmen oder Stop-Motion-Filme, da zu einem beliebigen Zeitpunkt eine weitere Aufnahme gemacht werden kann. Selbst Wissenschaftler, erkennt Goldberg das Potential von wissenschaftlichen Filmaufnahmen. Als Zubehör ist der Mikrophot, ein Aufsatz fürs Mikroskop, erhältlich.


Während im Federmotorbetrieb etwa 16 Bilder pro Sekunde aufgenommen werden, kann die Kamera mittels aufgeschraubter Kurbel und anderen Übersetzungen auch Zeitlupenaufnahmen bei normaler Projektionsgeschwindigkeit zu erstellen. Hierfür besitzt meine Kinamo die Übersetzungsverhältnisse x2, x4 und x8 pro Kurbeldrehung.

Der Werbespruch für die Kinamo „Filme dich selbst“ bezieht sich auf den automatischen Auslöser. Das Vorlaufwerk erlaubt es sich selbst zu filmen oder bei einer Szene teilzunehmen. Nachdem ein Hebel umgelegt und der Auslöser betätigt wird, fängt der Kinamo mit einem Geräusch an zu ticken, dass einen an einen Wecker oder eine Bombe erinnert (oben im Artikel befindet sich eine Audioaufnahme). Nach Ablauf von etwa 55 Sekunden fängt der Apparat selbstständig an zu filmen. An der Vorderseite befindet sich eine kleine Klemmvorrichtung in welche ein Stück Papier geklemmt werden kann. Dessen Herunterfallen signalisiert den Start der Aufnahme auch aus der Entfernung.

Mit eine kleinem Knopf unterhalb des Objektivs wird auf dem Filmmaterial eine kleine fühlbare Markierung aufgebracht, damit einzelne Szenen bereits in der Dunkelkammer erkannt und getrennt werden können.

Die Kinamo war auf besondere Bestellung mit einer verstellbaren Rotationsblende erhältlich. Mit dieser konnte die Verschlusszeit von 1/45 auf bis zu 1/300 verstellt werden. Während der Film mit der gleichen Bildanzahl pro Sekunde weitertransportiert wird, hat die Verschlusszeit etwas mit dem vergrößern und verkleinern des Hellsektors der Rotationsblende zu tun. 140 Grad entspricht dabei einer Belichtungsdauer von 1/45, 20 Grad einer Belichtungszeit von 1/300. Ein Feature, dass ich aufgrund der Winkelangaben der Bedienungsanleitung in Zeiten lichtempfindlicherer Filme bei meiner Kinamo irgendwann selber einmal nachrüsten werde.
Erste Aufnahmen von der Kinamo folgen hier in Kürze!
Absolutes Hi-Tech der 20er und 30er. Man kann nur den Hut vor dem Erfindergeist ziehen!
Sehr schöner Artikel, Rainer!
Amazing Article! I found an Ica Kinamo (N15) in an antique store in Atlanta, Georgia, USA a few years back and this has been extremely helpful understanding more about this camera. Im currently working on fixing up the magazine to run some film through this camera again.
Danke für den informativen Text. Die 15 sec. bei W.Frentz beziehen sich auf die sechs Meter Film, die ein Federaufzug durchzieht bei 24 Bildern pro Sekunde, wie ich vermute. Bei meiner N25 wurde das Bildfenster auf Tonfilmgroße verlötet und die Werkgeschwindigkeit auf 24B/S erhöht, was mit dem Aufkommen des Tonfilms üblich war, wie mir ein alter Berufsfilmer versicherte. Das tat den Zahnrädern im Inneren der Kamera nicht gut, die auf 16 B/S ausgelegt waren. Ich konnte zwar noch filmen, aber es klang arg rumpelig. Der neue Kinamo, W.16860, vom Trödel, war im Inneren robuster gebaut und hatte das 1:14 f=5cm Biotar Nr.916882 dran. Die Macher in Dresden hatten also auf den konstruktiven Mangel reagiert. Jetzt konnte ich entspannt filmen.
Bitte die Produktseite für Neugierige und Forschende datieren!
Dass der 16mm Kinamo bereits 1925 rauskam, liest man oft, ich fand nirgendwo einen Beleg dafür. Früheste Erwähnung wohl 1928, sicher aber 1929 und dann oft.
Gut Licht Thomas P.