KW Praktica – Die Mutter aller Prakticas

Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg in verschiedene Besatzungszonen geteilt. Eine vorübergehende Trennung, die sich aber dann Jahrzehnte verfestigen sollte. Die bestehenden Kamera- und Objektivhersteller auf ostdeutscher Seite sind noch nicht in den volkseigenen Betrieb einer VEB Pentacon zusammengefasst und arbeiten noch weitgehend voneinander unabhängig. Die KW Kamera-Werkstätten in Niedersedlitz sind noch eine der wenigen Betriebe, die produzieren können. Für die Besatzungsmacht sind diese auch aus einem weiteren Grund interessant: sie produzieren die erste Spiegelreflexkamera. Die Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch GmbH wurden ursprünglich von Benno Thorsch und Paul Guthe gegründet.

Thorsch scheidet bereits in den 30ern aus dem Unternehmen aus. Paul Guthe, Staatsbürger der Schweiz mit jüdischen Wurzeln, migriert in die USA. Die amerikanische Familie Noble mit deutschen Wurzeln erwirbt durch ein Tauschgeschäft die Kamerafirma. Guthe übernimmt im Gegenzug den Fotoservice von Noble in Detroit.

Das ehemalige Kamerawerk in Niedersedlitz entlang der S-Bahnlinie und Bismarckstrasse.

Allerdings handelt es sich nur beim linken Abschnitt um das Werk. Der wesentlich größere rechte Anbau und das Pförtnerhäuschen kamen erst später hinzu. Noble, eigentlich Karl Adolph Spanknöbel, emigrierte in den frühen 20ern in die USA und änderte seinen Namen. Der neue Inhaber Charles A. Noble und sein Sohn John H. Noble setzen vor allem auf Spiegelreflexkameras. Die Entwicklungen zu dieser hatten bereits 1937 unter Benno Thorsch und dem Konstrukteur Alois Hoheisel begonnen. Als devisenbringendes Produkt wird die Kamera auch in NS-Zeiten weiterproduziert. In der Nachkriegszeit werden Vater und Sohn von der sowjetischen Besatzungsmacht erst inhaftiert und dann ins Arbeitslager geschafft. Sie durchlaufen verschiedene Stationen, in welchen die meisten Gefangenen nicht überleben. Die Kamerawerke werden von der Besatzungsmacht zwangsenteignet und verstaatlicht. Die spätere Diffamierungspropaganda sollte auch noch später die Legende nähren, die Familie Noble habe von deren Villa „San Remo“ die amerikanischen Luftangriffe auf Dresden koordiniert. John Noble wird im Laufe seiner Inhaftierung auch Beobachter von zahlreichen Ereignissen und verschwindet als „Mann, der zu viel wusste“ in ein Todeslager nach Sibirien. Durch eine List kann er über einen Mitgefangenen und an einen neuen Zensor vorbei eine versteckte Nachricht und Grüße vom „noblen Neffen“ schicken. Ein Lebenszeichen. Nachdem sich der amerikanische Präsident persönlich dem Fall widmet, kommt John H. Noble nach fast 10 Jahren als Gulag-Überlebender frei. Er verfasst unter anderem die Bücher „Ich war Sklave in Russland“ oder „I Found God in Soviet Russia“. Noble wird zum Aufklärer, Redner und Mahner von den Zuständen in den russischen Gefängnissen.

KW steht damit unter der Verwaltung der sowjetischen Besatzungsmacht, welche unter Materialmangel unter dem Druck steht Reparationsleistungen zu erwirtschaften. Das Topprodukt die Praktiflex, sollte aber bald einer neuen SLR Modellreihe weichen, der Praktica. Entwickelt wird die Praktica in den Kamera-Werken Niedersedlitz unter der Leitung von Siegfried Böhm, welcher sich auch noch später durch viele weitere Kameraneuschöpfungen einen bekannten Namen machen sollte. Böhm stammt aus bescheidenen Verhältnissen und verließ das Erzgebirge in Richtung Dresden. Der einfache Konstrukteur bei der Zeiss Ikon AG bildete sich in den Abendstunden fort. In der Nachkriegszeit wird er von der Besatzungsmacht zu den KW geschickt, mit dem Auftrag, die Produktion der Praktiflex wieder aufzunehmen, nachdem die ehemaligen Besitzer ja „verschwunden“ waren. Das Hochfahren des Werkes ist allerdings in Zeiten der Nachkriegszeit mit Mangel an Material, Ressourcen und qualifiziertem Personal gar nicht so einfach. Seinen Auftrag erfüllt Böhm daher nicht ganz, denn er wendet sich von der ursprünglichen Praktiflex ab, um eine ganz neue Kamera zu konstruieren. Die Praktiflex wird zwar noch bis 1948 teils aus vorhandenem Material in unterschiedlichen Kombinationen weiter gebaut, verschwindet aber dann immer mehr zugunsten der neuen Praktica, welche vor allem auch einfacher gebaut werden kann. Diese sind teils auch noch als „Praktiflex“ gelabelt. Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur Praktiflex von Noble ist, dass sich nun der Auslöser vorne, und nicht mehr oben befindet.

Es folgen Modelle wie die Praktica FX und andere, um vor allem die neuen Anforderungen an die Blitzfotografie gerecht zu werden. So erlebt die Reihe auch innerhalb immer wieder Evolutionen, sei es bei den Gurtösen oder in der Beschaffenheit des Innenlebens.

Blitzsynchronisation ist ein großes Thema der Zeit. So sind Blitzbuchsen auch bei der Praktica noch in ganz unterschiedlichen Formen zu finden – erst unten, dann zwei, dann drei Buchsen…

Die Kamera hat einen fest verbauten Lichtschachtsucher mit Einstelllupe. Ein Prisma kann als Zubehör aufgesteckt werden. Das Sucherbild ist zwar nach heutigen Maßstäben recht klein und dunkel, dafür aber seitenrichtig. Bei den Folgemodellen sollte das Prisma zum festen Bestandteil der Prakticas werden.

Mit der Wende kehrt John Noble 1990 nach Ostdeutschland und nach Dresden zurück. Er möchte den enteigneten Familienbesitz, die Firma und die Warenzeichen zurück. Er erhält die Firmengebäude zurück, allerdings spricht die zuständige Treuhand Warenzeichen und Patente zur „Praktica“ einer anderen Partei zu.

One Reply to “KW Praktica – Die Mutter aller Prakticas”

  1. Zeitgeschichte pur!
    Sehr interessant mal wieder und schön dass Du auch an die Underdogs denkst. Sie sind es wert.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert