Kiev-60 TTL – ein Mittelformat-„Saurier“

Bei der Kiev-60 handelt es sich um eine Spiegelreflexkamera mit Wechselsucher für das Mittelformat aus dem Hause Arsenal mit Sitz in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Unter dem Begriff „Arsenal“ verstand man ursprünglich eine Rüstkammer und Waffenproduktion. So handelte es sich beim „Arsenal von Kiew“ ebenso um eine Produktionsstätte der zaristischen Armee. Das Arsenalwerk selbst war zentraler Schauplatz des Januaraufstandes der Arbeiter 1918. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vielfach Anlagen in Deutschland demontiert und als Kriegsbeute exportiert. So wandelte sich auch das Arsenalwerk zu einem Hersteller von optischen Geräten fürs Militär und das sowjetische Raumfahrtprogramm. Die Herstellung von zivilen Produkten gehörte lediglich zu einem Produktzweig der Firma.

Während man sich bei Arsenal mit der Kiev-88 noch sehr stark am Würfelkonzept der Hasselblad orientiert hat, verfolgte die Kiev-6C und Kiev-60 mehr den Ansatz der ostdeutschen Pentagon Six. Mit all den häufig genannten Mängeln war die Pentacon Six eine vollautomatische Mittelformatkamera mit Wechseloptiken. Vollautomatisch meint, dass Filmtransport und Spannen des Verschlusses gekoppelt sind und damit der Abgleich mittels Sichtfenster und aufgedruckter Zahl auf dem Papierträger entfällt. Bei der Kiev-60 und ihrer Vorgängerin handelt es sich aber nicht, wie oft Ostkameras vorgeworfen um eine bloße minderwertige Kopie, sondern um eine Neukonstruktion von Arsenal. Die Kiev-60 löste 1984 ihren Vorgänger 6C ab. Die Bodys sind leicht zu unterscheiden, da sich bei der 6C der Auslöser auf der linken Seite befindet. Diese befinden sich aufgrund der Größe nicht „oben“, sondern ähnlich der Praktica L-Serie „vorne“. Während in der 6C auch 220er Rollfilme verwendet werden konnten, geht dies bei der Kiev-60 nicht mehr. Ob P6, K-6C oder K-60, bei allen drei Kameras hat man vereinfacht ausgedrückt eine SLR Kleinbildkamera auf das Mittelformat entsprechend „vergrößert“. Die Kiev-60 kommt damit mehr als wuchtig und überdimensioniert daher. Unauffällig bleibt man mit einer Kiev-60 jedenfalls nur bedingt.

Allein der Body (ohne Objektiv) bringt über 1,5 kg auf die Waage. Zusammen mit einem Objektiv habe ich nur ein mulmiges Vertrauen in die Kameraösen und Befestigungen des Gurtes. Von der Pentagon Six wurde das entsprechende Bajonett übernommen, so dass entsprechende Objektive wie das Sonnar, Biometar oder Flektogon aber auch Objektive der Exakta 66 von Schneider-Kreuznach an der Kiev-60 verwendet werden können. Allerdings gibt es auch noch weitere interessante und preiswerte Objektivalternativen wie das Zodiak-8 30mm fisheye, dem Mir 65mm f3.5, das Vega 120mm f2.8, das Kaleanar 150mm f2.8 Kaleanar oder das Jupiter 36B 250mm f3.5. Auf jeden Fall sollte man prüfend einen Blick auf Bajonett werfen. So gibt es beispielsweise das Jupiter 36B sowohl mit dem älteren Schraubbajonett und dem P6 Bajonett der Kiev-60. Da dies der Autor selbst versäumt hat, das Objektiv sich aber in einem traumhaften neuwertigen Zustand befand, konnte ein entsprechender Adapter aus dem Hause ARAX aus Kiev unkomplizierte Abhilfe schaffen.

Bei meiner Kiev-60 TTL handelt es sich um eine Kamera im unverbauten originalem Auslieferungszustand mit dem vergütetem Sechslinser Volna-3 80mm f2.8 MC und dem kompletten Kitzubehör. Das Volna-3 ist neben dem Arsat 80mm f2.8 MC eines der beiden verwendeten Standardobjektive. Mit dabei im Kit: ein Lichtschachtsucher, zwei Filter, zwei Zwischenringe, Kameragurt, eine Gummigegenlichtblende, ein Zubehörschuh sowie eine geräumige Kameratasche. Die beiden ersten Ziffern der Seriennummer lassen auf das Herstellungsjahr schließen. Damit dürfte die gezeigte Kamera aus dem Herstellungsjahr 1987 stammen.

Die Kamera wird mit 120er Rollfilm geladen, auf welchen üblicherweise 12 Fotos im Aufnahmeformat 6×6 passen. Die Kamera verwendet einen seitlich ablaufenden Tuchverschluss und bildet rein mechanisch Verschlusszeiten von Bulb über ½ bis 1/1000 – die volle Sekunde fehlt. Die Kamera hat kein Vorlaufwerk.

Den oft berichteten „erschreckend“ lauten Spiegelschlag und Erschütterungen die durch das ganze Gehäuse gehen sollen, kann ich nicht so bestätigen, aber lautlos ist die Kamera natürlich nicht. Der Spiegel schwingt nicht automatisch zurück und kehrt erst beim erneuten spannen in seine Position. Ein großes Plus bietet das TTL Prisma, welches gerne auch auf andere Systeme adaptiert wurde. Das TTL Prisma ist nicht gekoppelt, die eingestellten und abgelesenen Werte müssen entsprechend auf Objektiv und Body übertragen werden. Im Prisma sind zwei LDR-Widerstände verbaut. Im Sucher zeigen zwei rote LEDs, welche entweder eine Überbelichtung, eine Unterbelichtung oder eine korrekte Belichtung durch das leuchten beider LEDs signalisieren.

Vom TTL Prisma gibt es zwei leicht unterschiedliche Versionen. Ich habe den Type 1 mit ISO Werten und einer automatischen Abschaltung, während der Type 2 noch die Einheit GOST/DIN verwendet und einen ON / OFF Schalter besitzt. Das TTL Prisma läuft praktischerweise mit drei herkömmlichen LR44 Knopfzellen.

Aber auch der Waist Level Finder mit Lupe ist im Gebrauch wirklich nicht zu verachten und mir fast noch lieber als das Prisma. Die Mattscheibe mit Schnittbildindikator ist erstaunlich hell.

Ein häufig berichteter Fehler der Kamera scheinen die teils überlappenden Negative sein. Ein Effekt der aufgrund der heutigen Dicke von Film und Papierträger zustande kommen soll. Meine Kamera weißt diesen Fehler nicht auf. Allerdings spanne ich den Verschluss auch vorsichtig und gleichmäßig. Ich lasse den Transporthebel nicht zurückschnellen, sondern führe diesen langsam zurück. Im Internet gibt es interessante Reparatur- und Justieranleitungen, um den Fehler der Überlappung wie auch andere Fehler zu korrigieren. Statt die Kamera neu zu justieren, soll auch ein einfacher Trick Abhilfe schaffen um Überlappungen zu vermeiden. Hierzu wird der Film normal geladen, zweimal gespannt und ausgelöst. Dann wird die Filmrückwand lediglich soweit geöffnet, dass das Zählwerk zurückspringt. Die Kamera wird wieder geschlossen. Man verliert dabei kein Filmmaterial, allerdings stimmt das Zählwerk nicht mehr richtig überein und man befindet sich statt bei ersten Bild bereits bei der dritten Aufnahme.

Die Qualitätsstreuung soll bei den Kameras aufgrund der damaligen Qualitätskontrolle und je nach Produktionsjahr etwas größer sein. Entweder habe ich keine großen Ansprüche, habe bei meinem Modell einfach Glück gehabt, weiß aber natürlich auch, dass ich gerade keine Hasselblad vor mir liegen habe. Wer weniger Risiko eingehen möchte, kann beispielsweise eine von ARAX geprüfte Kiev-60 oder Kiev-88 erwerben. Diese sind dann neu justiert und geprüft, im Innern beflockt und verfügt gegen Verwacklungsunschärfe des recht großen Spiegels über eine Spiegelvorauslösung. Die Kiev-60 ist im Kamerainnern nur schwarz lackiert, was zu Reflexionen führen kann. Ein passendes Beflockungskit, um Reflektionen zu mindern, ist bei ARAX zum Zeitpunkt des Artikels mit Versand für 9 Euro erhältlich wie ebenso allerlei Originalzubehör. Für ganz mutige Mittelformatfotografen gibt es diese auch noch mit neuer Belderung in den Optiken wie „Schlangenleder“ oder „Schneeleopard“. Mittlerweile wurde das Kamerainnere mit dem „flocking kit“ von ARAX neu ausgekleidet. ARAX arbeitete zu Beginn von diesem Artikel im April 2022 in Kiev weiter!

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