Vivien Maier – Dualität

Vivien Maier war zu Lebzeiten kein Stern in der Welt der Street Fotografie und manchmal werden Sterne auch im Nachhinein erschaffen. Vivian Maier führte ein Leben in „Dualität“, mit konträren Seiten, die nicht einfach kongruent übereinander gelegt werden können. Die Nanny, mit französisch-ungarischen Wurzeln, hielt ihre Tätigkeit als Fotografin, vor allem ihr Privatleben im Verborgenen. Zufällig wieder entdeckt hat Vivien Maier posthum Anerkennung und Aufmerksamkeit gefunden, aber auch ebenso viele Fragen aufgeworfen.

2007 ersteigert John Maloof auf der Suche nach alten Stadtansichten in Chicago eine Kiste voller Negative. Unschlüssig was er damit anfangen soll und welche Qualität diese haben, veröffentlicht er etwa 200 Negative auf Flickr. Die Resonanz aus dem Web ist groß, so beschließt Maloof die Käufer der anderen Kisten ausfindig zu machen. Während die Internetrecherche nach der Person von Vivien Maier ins leere läuft, taucht 2009 ihr Name im Internet auf. Allerdings handelt es sich dabei um ihren Nachruf. Die alte Dame hatte 2008 einen Sturz, von welchem sie sich nicht mehr erholte. Vivien Maier, die in Armut starb und wohl mehrmals obdachlos war, hatte den Großteil von ihrer Habe eingelagert. Ohne bekannte Nachkommen soll der Lagerraum nun aufgegeben und die Habseligkeiten entsorgt werden. Maloof darf mitnehmen was er möchte. Es wird klar, dass Maier nicht nur mehr als 100.000 Negative und unentwickelte Filme hinterlassen hat, sondern auch allerlei andere Dinge im Übermaß gesammelt und angehäuft hat. Maier sammelte in Ihrem Leben neben Erinnerungsstücken vor allem Unmengen an Zeitungen, als wolle sie eines Tages die Schlagzeilen, Geschehnisse und Artikel in einem Zusammenhang mit ihren Negativen bringen. Ob überhaupt ein Plan dahinter steckte? Systematik, Leidenschaft, Krankheitsbild oder Obsession? Maier hat es jedenfalls exzessiv getan. Aber wer war diese Vivien Maier?

Vivian Dorothy Maier wird am 1. Februar 1926 in der Bronx von New York geboren. Die französische Mutter Marie (geb. Jaussaud) wuchs bei ihrer Tante im französischen Saint-Julien en Champsaur in den französischen Alpen auf. Deren Mutter war bereits in die USA migriert, was ihre Tochter Marie ihr später ebenso nachtat. Dort lernt sie Charles „von“ Maier, ebenso Sohn von Migranten mit ungarischen adligen Wurzeln aus der heutigen Slowakei kennen. Vivien sollte aber in einem schwierigen Beziehungsverhältnis zu ihrer Mutter, ihrem älteren Bruder Charles Maier Jr. und auch ohne Vater aufwachsen. Marie kehrte mit ihrer Tochter nach Frankreich, dann doch wieder in die USA zurück. Viviens Kindheit und das Verhältnis zu ihrer Familie scheint ambivalent. Vielleicht finden sich darin die Ursprünge der Eigenarten einer Frau, die unverheiratet und kinderlos blieb. Vivien kehrt als junge Frau nach Frankreich zurück und fängt wohl zu diesem Zeitpunkt an sich mit Fotografie auseinanderzusetzen. Zurück in New York arbeitet sie kurz in einer Fabrik, um fortan als Nanny und Haushälterin zu arbeiten. Das Leben von Vivian Maier war geprägt von Dualität. Während sie als Nanny und Haushältnerin tief in das Leben der Familien eintaucht, schirmt Maier ihr Privatleben ab. Dualität spiegelt sich auch in den Beschreibungen ihrer ehemaligen Schützlinge wieder, welche die Einzelgängerin ganz unterschiedlich von liebevoll fürsorgend, exzentrisch, zurückgezogen, dreist bis hin zu unberechenbar beschreiben. Zwischen den Beschreibungen liegen aber auch Jahre und Jahrzehnte, in welchen die Nanny von Familie zu Familie weiterzog. Selbst ihren Namen schreibt sie in unterschiedlichen Varianten oder ist im Zweifelsfall einfach Mrs. „Smith“. Von den Häusern und Gärten der Vorstadt, in denen sie als Nanny arbeitete zieht es die Frau während und nach ihrer Arbeit in die Stadt. Die Faszination, die die Straße auf sie ausübte, führte zu einer beeindruckenden Bandbreite von Bildern, die das menschliche Leben mehrerer Jahrzehnte einfangen: Kinder beim Spielen, Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit, einsame Gestalten in der Menge, Armut, Gewalt, Beziehungen zwischen Mann und Frau. Immer wieder dabei sind Selbstportraits, das Spiel mit Reflexionen, welche die Frau hinter der Kamera mit ihrer Rolleiflex, später auch mit anderen Kameras zeigen. Die hochgewachsene Frau im Männerhemd, Stiefeln, einem Mantel, Hut ist bereits zur damaligen Zeit ungewöhnlich gekleidet und wirkt entrückt. Obwohl Vivien Maier über Jahrzehnte mehrere Filmrollen pro Tag belichtet haben muss, hatte sie auch die Fähigkeit diese Tätigkeit vor anderen zu verbergen. Während sie für manche die „Frau mit der Rollei“ war, ahnten andere überhaupt nichts von ihren fotografischen Streifzügen. Viele Filme blieben unentwickelt und von den zahllosen Negativen wurden nur seltenst ein Print hergestellt. Ihre Ergebnisse sah sie allenfalls als Negative, sehr viele gar nicht. Gerade die “Un“-Menge macht heute eine Sichtung, einen Gesamtüberblick, eine Bewertung und Einordnung ihrer Arbeit nicht einfacher. Hinzu kommen noch Film und Tonbandaufnahmen, welche ebenso berücksichtigt werden müssen.

Während manche Vivien Maier im gleichen Atemzug mit Größen der Street-Fotografie wie Diane Arbus nennen, gibt es auch Fragen und kritische Stimmen. Ab wann beginnt ein Werk, beim Negativ oder erst beim Print? Gehört Maier zu jenem Künstlern, denen der Prozess, also der Weg dahin wichtiger war, als ein Ergebnis? Ist ein post mortem hergestellter Print noch ein Original? Wer entscheidet über die Auflage? Wer entscheidet über Auswahl, Präsentation und Postproduktion des Materials? Was wäre im Sinne der Künstlerin? Heute drehen sich vielleicht viel zu viele Fragen um Vivien Maier nach der Vermarktung, den Urheberrechten, Regeln des Kunstmarkts, der Suche nach Angehörigen, der Einordnung von Vivien Maier und auch um ethische Fragen der Aufmerksamkeit um die Person, welche die Urheberin vielleicht sogar abgelehnt hätte. So bleibt Arbeit und Leben von Vivien Maier ein Mysterium oder wird dieses auch gemacht? Ging es Maier vielleicht mehr um den Akt des Fotografierens selbst, als um das Ergebnis? War es Leidenschaft, Konsequenz oder schon Obsession? Was hätte Vivien Maier selbst gewollt? Braucht künstlerisches Tun einen Betrachter oder eine öffentliche Resonanz um als Kunst anerkannt zu sein? Die Geschichte von Vivian Maier ist eine Geschichte von einer Arbeit im Verborgenen. Mit den internationalen Ausstellungen, den Büchern, Katalogen und Filmen kommt nun die Beachtung, welches die Arbeiten und auch die Person umfasst.

*Illustration des Blogbeitrags Rainer Leyk, KI generiert mit Midjourney

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