KW Praktiflex – Schicksal der Familie Noble

“Den Grad der Zivilisation einer Gesellschaft kann man am Zustand ihrer Gefangenen ablesen.“ Ein Zitat von Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821 – 1881) russischer Schriftsteller, dass auch noch heute und gerade in unseren Zeiten gilt.

Sieg über das Dritte Reich. Die KW Praktiflex war auch unter der sowjetischen Besatzungsmacht eine begehrte Kamera, vor allem aber blieb das kleine Kamerawerk der Familie Noble in Zeiten des Krieges unzerstört. Die Spiegelreflexkamera sollte in den folgenden Jahren unter Siegfried Böhm weiterentwickelt werden, und zwar zur Praktica und Praktina. Der Erfolg der Kamera brachte der Familie Noble allerdings vor allem eins – Leid.

Die Wurzeln der Kamera-Werkstätten Guthe & Thorsch GmbH reichen zurück zur Gründung durch Benno Thorsch und Paul Guthe. Bereits in den 1930er Jahren verließ Thorsch das Unternehmen. Paul Guthe, ein Schweizer Staatsbürger mit jüdischen Wurzeln, strebte eine Migration in die USA an. In diesem Kontext zeigte die aus Deutschland stammende amerikanische Familie Noble Interesse an der Kamerafirma von Guthe. Noble, ursprünglich Karl Adolph Spanknöbel, war in den frühen 1920er Jahren in die USA emigriert und hatte seinen Namen im Charles A. Noble geändert. Beide Inhaber vollzogen sozusagen einen Firmentausch. Noble übernahm die Kamerafabrik, Guthe führte den erfolgreichen Fotoservice in Detroit weiter. Der neue Inhaber Charles A. Noble und sein Sohn John H. Noble setzten vor allem auf eine neue Entwicklung des Unternehmens, die Spiegelreflexkamera Praktiflex. Die Entwicklungen zu einer solchen hatten bereits 1937 unter Benno Thorsch und dem Konstrukteur Alois Hoheisel begonnen. So erschien neben der Exakta aus dem Hause Ihagee die KW Praktiflex als zweite Spiegelreflexkamera. Das Besondere an dieser ist der, wenn auch nach heutigen Maßstäben etwas träge, Rückschwingspiegel. Als devisenbringendes Produkt wurde die Kamera auch in NS-Zeiten weiterproduziert. Die Familienmitglieder konnten sich als amerikanische Staatsbürger immer weniger frei bewegen und wollten erneut zurück in die USA.

Zwecks eines Austauschs von deutschen und amerikanischen Staatsbürgern reisten die Nobles per Bahn nach Süddeutschland, um in Ravensburg ausgetauscht zu werden. (Es ist ironisch, denn Ravensburg ist meine Geburtsstadt, und ich schreibe gerade von dort aus an diesem Artikel, den Sie gerade lesen.) Dort angekommen verweigerte allerdings die Gestapo der Familie die Ausreise und schickte sie zurück nach Dresden. Mit dem Kriegsende und dem Anrücken der sowjetischen Besatzungsmacht hisst die Familie Noble die amerikanische Flagge und markiert ihr Grundstück als amerikanisches Gebiet, um sowjetische Soldaten vor Plünderungen und Gräueltaten abzuschrecken. Damalige Ereignisse, die traurigerweise an aktuelle Geschehnisse erinnern. Wie schon für die Nationalsozialisten war die Firma auch für die nachfolgende Besatzungsmacht interessant. Ehemalige Nationalsozialisten, nun unter roter Flagge, wurden in leitende Funktionen in das Kamerawerk berufen. Die Gier der Militärverwaltung, sich Firma und Praktiflex anzueignen überwog wohl vor Recht, und so mussten wohl der amerikanische Eigentümer und dessen Erbe „verschwinden“. Vater und Sohn werden ohne nachvollziehbare Angaben verhaftet, verschwinden und erleben – oder besser überleben – in verschiedenen Stationen Hunger, Willkür, Folter, Verschleppung, Zwangsarbeit, Entmenschlichung, Sterben, Mord und Tod. Der Vater kam nach Jahren gezeichnet frei und kehrte nach Amerika zurück. Der Sohn blieb verschwunden. John Noble wurde im Laufe seiner Inhaftierung Zeuge zahlreicher Ereignisse und verschwand als „Mann, der zu viel wusste“ und amerikanischer Staatsbürger, der dort eigentlich „nicht sein dürfte“. Die Unterbringung in den verschiedenen Lagern glich immer einem Todesurteil durch Erschöpfung, Hunger und Krankheit. Nach Jahren endete seine Reise im Gulag Workuta im Nirgendwo fernab von Zivilisation als „Sklave“ mit der Nummer 1/E241. ‚“Gulag“ steht für Glavnoye upravleniye lagerey. Die Gulags waren ein Netzwerk von Arbeitslagern in der Sowjetunion, das während der Herrschaft von Josef Stalin in den 1930er bis 1950er Jahren existierte. Diese Lager wurden für politische Gefangene, Dissidenten, Kriminelle und andere als „feindlich“ betrachtete Elemente genutzt. Die Bedingungen in diesen Lagern waren extrem hart, und zahllose Menschen sind verschwunden und verloren dort ihr Leben. Durch die Schreibberechtigung eines Mitgefangenen kann John an einem neuen Zensor vorbei, eine versteckte Nachricht auf einer Postkarte und Grüße vom „noblen Neffen“ an seine Verwandtschaft nach Westdeutschland schicken. Ein Lebenszeichen, das die Verwandtschaft wohl richtig deutet und die Nachricht nach Detroit zu Johns Eltern weiterleitet. Nach mehreren erfolglosen Anfragen der Amerikaner an die Sowjets landet der Fall im Weißen Haus, wo sich der amerikanische Präsident persönlich dem Fall widmet. John H. Noble kommt nach fast 10 Jahren als Gulag-Überlebender frei. Nach seiner Freilassung und dem entsprechenden Medieninteresse wurde die Familie Opfer der Diffamierungspropaganda, die fälschlicherweise behauptete, die Familie Noble habe von ihrer Villa „San Remo“ aus die amerikanischen Luftangriffe auf Dresden gesteuert. John H. Noble verfasst unter anderem die Bücher „Ich war Sklave in Russland“ oder „I Found God in Soviet Russia“. Noble wurde zum Aufklärer, Redner und Mahner der Zustände in den russischen Gefängnissen, in denen vergessene und verleugnete Gefangene völliger Willkür ausgesetzt waren. Bereits ab 1945 wird die Praktiflex aus Restbeständen wieder hergestellt. Während der Vater und Sohn Noble sich in Gefangenschaft befanden, wurde Siegfried Böhm von der Besatzungsmacht in die KW geschickt, um dort die Produktion der Praktiflex zur Erfüllung von Reparationsleistungen wieder aufzunehmen. Die Erfolgsgeschichte der Praktica begann. In seinem Buch „Verbannt und verleugnet“ beschrieb John H. Noble mehrmals und wies darauf hin, dass die Entwicklungen zur Praktica und Praktina bereits in der Schublade lagen. Die Praktica wird zur Erfolgsgeschichte der VEB Pentacon. Mit der Wende kehrte John Noble 1990 nach Ostdeutschland und nach Dresden zurück. Er will den enteigneten Familienbesitz, die Firma sowie die Warenzeichen zurück. Er erhält die Firmengebäude, allerdings spricht die zuständige Treuhand Warenzeichen und Patente zur „Praktica“ jemand anderen zu. Eine neue Kamera unter dem Namen „Praktica“ kann daher nicht mehr gebaut werden. Der fast 70-jährige entwickelt unter anderem eine neue Panoramakamera fürs Mittelformat und das Kleinbild, die „Noblex“. John H. Noble verstirbt am 10. November 2007 völlig überraschend und unerwartet.

Die Kamera einzuordnen ist auf den ersten Blick nicht ganz eindeutig. Sie dürfte aus der direkten Nachkriegsproduktion stammen, also aus dem Jahre 1945 aus den noch vorhandenen Bauteilen. Dabei handelt es sich auch um das gleiche Jahr, welchem Vater und Sohn Noble verschleppt wurden. Die Kameras waren nicht für den Verlauf, sondern zur Erfüllung der Reparationsleistungen gedacht. Zu dieser Zeit kam es zu einer Durchmischung der Merkmale, weshalb hier beispielsweise die Kappe verchromt, die Front hingegen aus Zeiten von Materialmangel lackiert ist. Demnach handelt es sich um eine Praktiflex der ersten Generation, welche nach Hummel (mehr oder weniger) als Version 11 mit verändertem Zählwerk im Aufzugsknopf, teilweiser schwarzer Lackierung und noch fehlender KW-Prägung auf der Rückseite, sowie fehlender Gravur mit Herstellerbezeichnung eingeordnet werden kann. Die Tasche ist eine kleine Überraschung, denn diese trägt bereits den Schriftzug „Praktica“, die alte Prägung „Praktiflex“ scheint noch hindurch. Tatsächlich wurden in der Version 11 wenige Exemplare bereits als „Praktica I“ gelabelt.

Die Kamera besitzt einen Tuchschlitzverschluss mit Verschlusszeiten von B, 1/25 bis 1/500.

Diese Praktiflex hat „noch“ das Schraubbajonett M40x1, welches im Laufe der Reihe dann auf das populäre M42x1 verändert wurde. Die Front stammt sicherlich noch aus Kriegszeiten da damals Teile wegen Materialmangen lackiert und nicht verchromt wurden.

Der klappbarer Lichtschachtsucher ist nicht abnehmbar und besitzt eine klappbare Lupe, sowie einen Sportsucher.

Noch macht die technisch einwandfreie Praktiflex ein etwas trauriges Bild und wird nun von mir restauriert, neu beledert und erhält vor allem auch einen neuen Spiegel. Bilder von der restaurierten Kameras und dem ersten Testfilm werden sich auch hier in Kürze finden lassen.

Wer mehr über die Lebens- und Leidensgeschichte von John H. Noble erfahren möchte, dem empfehle ich unter anderem das Buch „Verbannt und verleugnet“ oder die Website www.john-noble.de.

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